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"BITTE" von Hilde Domin



BITTE


Wir werden eingetaucht

und mit dem Wasser der Sintflut gewaschen,

wir werden durchnäßt

bis auf die Herzhaut.

Der Wunsch nach der Landschaft

diesseits der Tränengrenze

taugt nicht,

der Wunsch, den Blütenfrühling zu halten,

der Wunsch, verschont zu bleiben,

taugt nicht.

Es taugt die Bitte,

daß bei Sonnenaufgang die Taube

den Zweig vom Ölbaum bringe.

Daß die Frucht so bunt wie die Blüte sei,

daß noch die Blätter der Rose am Boden

eine leuchtende Krone bilden.

Und daß wir aus der Flut,

daß wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen

immer versehrter und immer heiler

stets von neuem

zu uns selbst

entlassen werden.


Hilde Domin

 

Dieses Gedicht von Hilde Domin möchte uns ermutigen. Sie eröffnet uns einen Weg der Verwandlung zwischen den Gegensätzen von Schmerz und Geborgenheit und wie wir zu uns selbst erwachen können.

Ich denke an Menschen, die ans Bett gefesselt sind und sich kaum mehr bewegen können und doch Frieden ausstrahlen. Denken wir an Komponisten wie Schubert oder Beethoven, die trotz ihres Leidens eine Musik hinterlassen haben, die uns heute noch zutiefst bewegen kann. Denken wir an Nelson Mandela, der viele Jahre im Gefängnis gesessen ist und nach seiner Freilassung Nachhaltiges bewirkte. Wie ist so etwas möglich? Wer sind diese Gesegneten? Das Leid hat sie reifen lassen, und sie sind über ihren Schmerz hinausgewachsen.

Manchmal geht der Mensch von sich aus in eine falsche Richtung, wenn er das Glück sucht. Allerdings stülpt ihn das Leben manchmal um und führt ihn dorthin, wohin er selbst nie hin wollte.

Vielleicht können wir sagen: Aus Liebe geschieht das, um ihn dorthin zu führen, wohin seine Sehnsucht ihn ruft, ohne dass er es ausdrücklich weiß. Oft ist es der Schrei des Lebens, der uns aufwecken will - in der tiefsten Krise, im tiefsten Leid.

Hilde Domin lehrt uns, Demütige zu sein und anzunehmen, dass wir vom Leben verwundet werden können und auch aus den schmerzhaften Erfahrungen „immer versehrter und immer heiler zu uns selbst entlassen werden“.

Wenn wir in den Abgrund hinabgetaucht werden, sei es durch eine Krankheit, durch ein plötzliches Ereignis, sei es durch eine Lawine, aus der man wieder lebend herauskommt, wird einem die Gnade des Schauens von neuem geschenkt. Wir werden dankbarer für das Wesentliche und Schöne, das in unserem Leben vorhanden ist.

Im Grunde genommen erleben wir dann, dass das Leben tiefer liegt als unser Egostreben. Das Ego kann sich im Ganzen auflösen. Deshalb hat unser Weg mit Sterben zu tun: Sterben auf dem Kissen. „Stirb, bevor du stirbst, dann tu, was immer du willst und alles ist gut.“

Wir sind in unserem Menschwerden in einem Kreislauf von „Stirb und werde“ (André Gide) hineingerufen und begabt, aus einer sichtbaren und unsichtbaren Wirklichkeit zu reifen.

Die Dichterin spricht die „Bitte“ an diese unsichtbare innere Wirklichkeit an, für die wir empfänglich sein können. Erst in diesem Bereitsein und in diesem Vertrauen kann sie wirksam werden und sich entfalten. Hilde Domin, die selbst vom Schicksal Geprüfte, inspiriert uns, in den Prüfungen des Lebens die Innenwelt gestaltend miteinzubeziehen.

Verwandelt können wir nur werden, wenn wir den Mut und das Vertrauen haben, das Entsetzliche, das Grauen anzublicken und anzunehmen. Auch die Angst löst sich auf, wenn man der Angst Auge blickt, wenn man sich dem Tod stellt - erst dann wird das Absolute als gegenwärtige Kraft erfahren.

Dann erkennt man das wahre Gesicht der Dunkelheit und des Todes. Alles löst sich auf in eine selige, tragende Kraft und Liebe.

Und erst jetzt beginnt man neu, anders zu leben in einer beständigen Freude, einer Freude ohne Warum. Dieses Brennen kann auch in Herbstwind und Frost nicht erlischen.

Von Herzen grüße ich euch alle! Und danke euch für all euer Engagement und für eure Spenden!


Christoph


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